Foto: Luca Maximilian Kunze
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Viveka P.

0828

 

Aber es schien so einfach, ihn zu lieben. Es schien so logisch ihn zu lieben, gleich von Beginn an, als wir uns das erste Mal in die Augen sahen, ich noch ohne Absicht und er mit seinem belustigten Blick, den er auch zu ernstem Gesicht nicht ablegen kann. Antonio, für den alles ein Spiel ist. Ein hübsches Spiel, bei dem niemand verlieren kann, weil es auch nichts zu gewinnen gibt, und dann fährt er mir zärtlich mit seiner schmalen, weichen Hand durchs Haar und lässt sie warm in meinem Nacken liegen, bis ich weine. Ach, liebe Anstalt, warum muss ich immer weinen, wenn Antonio mich berührt?

 

0827

Liebe Anstalt, ich habe den großen Esstisch aus dem Haus hinaus aufs Feld geschleppt, er war kaum aus der Tür zu kriegen. Chiara hat mir nur kopfschüttelnd zugesehen, ich habe sie angeschrien, sie soll mir gefälligst helfen oder verschwinden, da ist sie gekränkt abgezogen. Ich habe den Tisch gedeckt, ein weißes, gestärktes Tischtuch, das schöne Geschirr (mit dem Zitronenmuster), das Silberbesteck, die teuren Muranogläser. Ich habe für zwei gedeckt und auch einen Strauß Blumen auf den Tisch gestellt, den fünfarmigen Kerzenleuchter. Der Mond nimmt schon wieder ab, aber die Nacht ist hell; es ist ein wenig kühl, mein Nachthemd zu dünn. Ich trinke von dem Montepulciano d'Abruzzo, es ist die zweite Flasche oder die dritte. Das Essen steht in einer großen Schüssel auf dem Tisch und wird langsam kalt. Ich habe eine Virtù teramane gekocht, ich habe sie genau sieben Stunden kochen lassen, sie ist perfekt. Man kommt nicht zu spät zum Essen. Wenn Antonio nicht bald kommt, ist sie kalt.

0826

Liebe Anstalt, die Zeit ist mir davongelaufen, ich habe sie nicht erwischt. Es ist immer noch der 26ste August. Ich bin der Zeit über die Felder nachgerannt, aber sie war mir immer ein paar Schritte voraus, blieb manchmal stehen und hat mir ihren hübschen, nackten Arsch entgegengereckt, als ich nahe genug war, sie zu fassen, ist sie weitergehüpft, ein albernes, kleines Kind. Wenn ich stehen blieb, stand sie auch, immer zu sehen. Also bleibe ich stehen, liebe Anstalt. Es ist noch immer der 26ste August.

0825

Die Zeit ist über die Felder davongelaufen.

0824

Liebe Anstalt, ich nehme schon eine Zeitlang meine Pillen nicht mehr. Ich weiß nicht, ich fühle mich ganz normal, ich weiß nicht, was das zur Folge hat. Aber ich werfe pünktlich jeden Tag in der Früh eine Pille in den Abfluss, auf leeren Magen. Denkst du, sterben ist das Schlimmste?

0823

Ich habe hier im Haus eine Kiste, in der ich lauter Fotos von Antonio aufbewahre. Antonio, wie er lacht, Antonio wie er isst, Antonio, wie er schläft, Antonio im Anzug, in Jeans, in Unterhosen, Antonio nackt, von vorne, von der Seite, von hinten. Es müssen inzwischen hunderte sein, ich mache ständig neue, keines wird ihm gerecht, keines, liebe Anstalt, ist ihm auch nur ähnlich.

0822

Zum Abendessen gestern, liebe Anstalt, war ich bei Signora Ceccarelli, die nicht aufhört, mich wegen Antonio zu bedrängen. Es gab Arrosticini, Bucatini mit Brokkoli und Sardellen, Pollo alla Franceschiello und zum Kaffe Torroncini. Ich habe einiges an Wein getrunken, obwohl er mir nicht geschmeckt hat, und kaum etwas gesprochen. Ich hatte ein kariertes Kostüm von Chanel von 2010 an (das Antonio so liebt), mit dem doppelreihig geknöpften Jäckchen mit dem runden, dreiteiligen Kragen und dem kurzen, etwas ausbauschenden Rock; ich kam ohne Schuhe, ohne Strümpfe, ohne Unterwäsche. Wir saßen in Signora Ceccarellis Wohnzimmer, in ihren französischen Rokokosesseln, mit den geschnitzten und vergoldeten Holzzargenrahmen, ich spürte den harten Stoff der Polsterung direkt an meinem Hintern und an meiner Muschi. Als Signora Ceccarelli die Arrosticini aus der Küche brachte, hat sie zum ersten Mal Antonio erwähnt; da hab ich es einfach rinnen lassen, in ihre französischen Medaillonsessel hinein, dreimal ist es mir insgesamt bis zu den Torroncini gelungen. Ich bin kurz vor Mitternacht gegangen, habe mich höflich für das Essen bedankt, ich denke, bis dahin hat sie nichts bemerkt. Aber was hätte sie auch sagen sollen?

0821

Liebe Anstalt, auf dem Nachkästchen auf Antonios Seite des Bettes liegt noch immer das schmale Buch, das er jeden Sommer hier aufs Neue liest. Meist sitzt er in Unterhosen auf der Holzbank vor dem Haus, manchmal setze ich mich in einiger Entfernung dazu und beobachte ihn, wie er behutsam die Seiten umlegt. Er scheint mich gar nicht zu bemerken. Manchmal lacht er dann auf, es ist ein stilles, aber dennoch unbändiges Lachen, das ihn schüttelt. Warum er lache, habe ich ihn gefragt, Der Fremde sei doch gar kein lustiges Buch. Er hat nur kurz aufgeschaut, mich fröhlich angeblickt und ja gesagt, ja, ich weiß.

0820

Liebe Anstalt, ich weine um Antonio. Natürlich wird er mich verlassen. Ich könnte seine Mutter sein, auch wenn er das nicht sieht. Natürlich wird er früher oder später gehen, deswegen weine ich jetzt schon. Ich kann gut über Dinge weinen, die noch gar nicht passiert sind. Das ist ein Talent.

0819

Liebe Anstalt, heute Nacht war mir, als wäre Antonio endlich gekommen. Ich hatte schon geschlafen, da kam er leise ins Zimmer; es war ganz dunkel, er hat sich seine Kleider ausgezogen und sich an mich geschmiegt, seinen Arm um mich gelegt. Wir haben nicht gesprochen, ich habe ihn an seinem Geruch erkannt, niemand riecht so wie Antonio; und seine Haut war warm, es kommt mir immer vor, als wäre Antonio wärmer als andere Menschen. Heute früh war das Bett neben mir benutzt, aber leer, Antonios Geruch hing noch im Raum, aber er war nicht da.

0818

Liebe Anstalt, wie ich mich erinnere, als wir den ersten Sommer hier im Haus verbracht haben; wie Antonio am Haus gearbeitet hat, weil er alles selber machen wollte; wie die Nachbarn geguckt haben; wie die Nachricht durch den Ort ging, eine Deutsche habe das Haus gekauft; wie sie alle Antonio nur für einen Handwerker hielten, wie Antonio darüber gelacht hat; noch mehr, als sie merkten, dass er kein Handwerker war, als sie irgendeine absurde Verwandtschaft von ihm zu mir sich erfanden, nur damit alles seine Ordnung hatte; wie Antonios Lachen in Wut umschlug (und ich dann lachen musste) als ihm zu Ohren kam, wie sie mich nannten, was ich sei, und er, ein Gigolo.

0817

Liebe Anstalt, ich bin heute in L'Aquila. Ich bin mit Antonio oft hier gewesen, ich mag diese Stadt. Wir sind immer ein wenig herumspaziert und wenn wir uns alleine glaubten, sind wir über die Absperrungen in die Rote Zone geklettert. Man biegt zweimal ums Eck und dann ist man alleine zwischen den zerstörten Gebäuden, inmitten außerirdischer Gerüstbauten, wie ich sie noch nie woanders gesehen habe. Und das Gefühl, man erntfernte eine Strebe und alles bräche in sich zusammen.

Die Menschen, die hier wohnten, hat man in billigen Plattenbauten außerhalb der Stadt untergebracht. Ob noch einer von denen an eine Rückkehr glaubt?
Antonio wird immer ganz still hier, seine jungenhafte Fröhlichkeit fällt von ihm ab und seine Augen sind überschattet, er wirkt, als hätte er Schmerzen. Noch Stunden später traue ich mich nicht, ihn anzusprechen.
Warst du, liebe Anstalt, schon einmal in einer sterbenden Stadt?

0816

Liebe Anstalt, gerade schoss er mir wieder durch den Kopf (wegen Signora Bisegna wahrscheinlich), dieser dümmste aller Sätze, dieser egoistischste aller Sätze, als traniges Liebesbekenntnis getarnt (ob der je von einer Frau tatsächlich so ausgesprochen wurde? oder war der nur vom Kino für uns erfunden?): Ich wünsche mir ein Kind von dir!

0815

Liebe Anstalt, ich habe gestern erst das Paket geöffnet, das vor ein paar Tagen schon gekommen ist. Gregor, der mir immer deutschsprachige Bücher schickt, damit ich wisse, was da so aktuell im Gespräch sei. Ich habe 3 davon angelesen und gleich wieder zur Seite gelegt. Wann ist das eigentlich passiert, wann sind diese Bücher, die aktuell im Gespräch sind, so anämisch geworden? Wer hat ihnen die Schlagadern aufgeschnitten, warum berührt mich nichts, warum schmerzt mich nichts, was ich da lese? Die Türen der Beliebigkeit und Irrelevanz stehen weit offen und herein kommt eine tote und dürre Germanistenprosa, die mit der Welt, die mit dem Leben, die mit mir gar nichts zu tun hat.

0814

Liebe Anstalt, Signora Bisegna kam heute in wilder Aufregung über das Feld gerannt: Sollte ich noch einmal auf ihre Kinder losgehen, dann würde sie mir die Polizei ins Haus schicken, dann würde ihr Mann mich töten, Chiara konnte sie kaum mehr beruhigen. Signora Bisegna zählt zu jenem Typus Frau, die ihr Heil und ihre Bestimmung in kaum jemals unterbrochenen Gebärfreuden gefunden haben und die mit geschwollenem Bauch und im Wissen um die letzte Wahrheit milde und mitleidig auf ihre Geschlechtsgenossinnen  hinabsehen. Ich bin gar nicht erst hinuntergegangen. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Natürlich wollte ich ihre Kinder erschrecken, als ich halbnackt mit meinen verbundenen Füßen und einer Axt in der Hand auf sie zugelaufen bin. Sie sind wild kreischend davongerannt, aber ich hätte ihnen vermutlich nichts getan.

0813

Liebe Anstalt, es macht mich fast verrückt. Am Anfang gab es noch ein Freizeichen, bevor sich die Mobilbox eingeschalten hat, jetzt hebt bei jedem Anruf gleich die Box ab. Auch auf meine sms bekomme ich keine Antwort. Antonio ist überfällig. Wie diese Möglichkeit der ständigen Erreichbarkeit Abwesenheiten nur noch vergrößert, wenn sie versagt. Wie unheilvoll lähmend dieses Schweigen auf einmal wird, wie tief und schwer und schwarz.

0812

Liebe Anstalt, ich bin noch immer im Bett, Chiara wechselt mir alle 3-4 Stunden die Verbände an den Füßen. Durch das Fenster kann ich hinaus auf die Felder und hin zum Teich sehen, die Sonne scheint. Die Nachbarskinder haben heute die Bücher entdeckt, die ich aufs Feld getragen habe. Ich mag diese Kinder nicht, sie sind laut und dumm und ungezogen. Aber heute stehen sie ganz still, sie stehen am Rand des Feldes, die Hände hinter ihren Rücken, sie wissen nicht, wie sie sich den Büchern gegenüber verhalten sollen.

0811

Liebe Anstalt, ich hatte heute alle Mühe, Chiara zu beruhigen, die mich mittags mit blutigen Füßen im Bett gefunden hat, durch ihr Schreien erst bin ich aufgewacht. Sie hat eine Waschschüssel geholt, mit heißem Wasser, in dem sie einige ihrer Kräuteressenzen aufgelöst hat, die sie auf einem Regal in der Küche in kleinen Fläschchen aufbewahrt: Es roch nach Salbei und Thymian und Wacholder. Chiara ist eine Hexe. Sie hat mir die Füße damit gereinigt und währenddessen mit mir geschimpft, eine Tirade Italienisch, von der ich nur die Hälfte verstanden habe, aber eines genau: Wäre Signore Antonio nur hier! Jetzt liege ich mit dick eingebundenen Füßen am Bett, ich sehe aus wie eine Leprakranke, als hätte ich nur noch Beinstümpfe, Chiara hat mir verboten aufzustehen, ich hab auch gar keine Lust dazu. Ich liege nur hier und denke nach. Wäre nur Signore Antonio hier.

0810

Liebe Anstalt, ich bin heute nach Castel del Monte hinaufgegangen, ohne Absicht eigentlich; anfangs bin ich einfach ein Stück die Straße entlangspaziert, um mir die Beine zu vertreten, das Haus war mir zu eng. Dann bin ich von der Straße abgekommen und den Berg weiter hinangestiegen. Es sind nur 100 Höhenmeter, aber hatte die falschen Schuhe an, die Lederriemchen haben an meinen Fersen gescheuert, ich hab die Schuhe ausgezogen und bin barfuß weitergegangen. Es hat 4 Stunden gedauert, bis ich Castel del Monte erreicht hatte. Ich wollte in einer Bar einen Espresso trinken, aber ich hatte kein Geld bei mir. Ich bin den Berg wieder hinuntergestiegen, als ich wieder zuhause war, waren meine Füße aufgeschunden und ich blutete aus ein paar Schnitten an den Sohlen, die Knöchel sind zerkratzt. Aber müde bin ich nicht.

0809

Liebe Anstalt, heute nachmittag saß eine Katze vor dem Haus. Ich war drinnen in der Küche, als ich ein merkwürdig ersticktes Schreien hörte, wie von einem kleinen Kind. Es kam von draußen, und als ich nach draußen ging, saß dort nur eine verwahrloste Katze, wenige Meter weg vom Haus. Sie saß aufrecht da, ein Ohr seitlich, das andere nach vorne ausgerichtet, und sah mich auffordernd an. Den Schwanz hatte sie in einem Kreis um die Pfoten gewickelt; es war eine ganz normale Katze, mit nußbraunem Fell, von dunkleren Streifen durchsetzt. Ich bin wieder ins Haus zurück und hatte die Katze schon vergessen, aber als ich abends wieder hinausging, saß sie noch immer dort, als hätte sie sich gar nicht bewegt und nur auf mich gewartet. Ich habe versucht, sie mit dem Besen zu vertreiben, aber sie stand nur kurz auf und kam dann wieder zurück, setzte sich hin und starrte mich weiter an. Ich bin jetzt in meinem Zimmer, draußen ist es dunkel und ich kann aus dem Fenster nichts erkennen, aber ich bin sicher, sie sitzt noch immer an derselben Stelle.

0808

Liebe Anstalt, ich frage mich, wo Antonio bleibt, er wollte schon längst hier sein. Er ist mit Freunden irgendwo unterwegs, ich erreiche ihn nicht. Signora Ceccarelli kommt jeden Tag vorbei, um nach ihm zu fragen, sie hat einen Narren an ihm gefressen. Aber diese Fragerei macht mir seine Abwesenheit noch deutlicher. Liebe Anstalt, es dauert mir einfach schon zu lang. Viel zu lang.

0807

Liebe Anstalt, ich weiß nicht, wann das begonnen hat, dieses Gefühl, ich müsste mich selbst ständig neu erfinden. Als sei ich eine Romanfigur, ein Platzhalter, ein Avatar. Ich weiß oft nicht, was ich denken soll, was ich tun soll, was ich fühle. Ich weiß oft nicht, ob mir das Essen schmeckt, dass ich gerade zu mir nehme, der Kaffee, der Wein. Ich erwische mich dabei, wie ich mich selbst danach frage: Und, Viveka, schmeckt es dir?, aber die Antwort bleibt unbestimmt und die Unbestimmtheit ist wie kaltes Fett im Mund.

0806

Liebe Anstalt, ich habe heute versucht, einen Teil des Feldes umzugraben. Antonio und ich hatten im Frühjahr dort Blumen gesät, wir waren nachts im Regen nackt aus dem Haus gelaufen und hatten aus 2 Baumwolltaschen mit Blumensamen um uns geworfen, bis wir außer Atem auf der Erde liegen blieben. Dann haben wir auf das Ende des Regens gewartet, Antonio hielt mich im Arm und irgendwann bin ich dort eingeschlafen. Im Mai hat noch der Mohn geblüht, Korn- und Glockenblumen, Nelken, Klee, aber jetzt ist alles vertrocknet, nur dürre Stengel sind noch über. Ich habe den alten Traktor mit der Fräse aus der Scheune gefahren, er ist gleich angesprungen, aber als ich die Fräse gesenkt habe, ist nur eine Staubwolke aufgestiegen und es gab ein jammerndes Geräusch, als der Motor abstarb. Der Boden ist hart wie Stein, man kann die Krumen mit der Hand nicht zerdrücken, wirft man sie auf den Boden, hört man ein hohles Tocken. Ich bin dann ins Haus gegangen, liebe Anstalt, ich habe alle Bücher aus dem oberen Stockwerk auf das Feld getragen, nur ein paar habe ich im Regal zurückgelassen, nur die, die mir etwas bedeuten wollen. Ich habe die Bücher eines neben dem anderen aufgeschlagen auf dem Feld aufgelegt. Es waren viele Bücher und ich hatte lange zu tun. Aber jetzt sieht es sehr schön aus.

0805

Liebe Anstalt, dieses Briefeschreiben ohne Antwort ist eine traurige Angelegenheit. Schreiben überhaupt ist eine traurige Angelegenheit, mit der ich eigentlich schon abgeschlossen hatte. Weil es immer so ungenügend bleibt, weil dieses Nacheinander der Sprache, dieses Verorten-Müssen wie ein Klotz an der Welt und den Gedanken hängt, die sich im Kopf so grazil und leicht anfühlen. Warum hast du mir das angetan, liebe Anstalt? Warum hab ich mir das angetan?

0804

Liebe Anstalt, es ist immer noch heiß, es kühlt hier in den Nächten nie richtig ab, es hat immer noch an die dreißig Grad, der schwache Wind leckt einem nur lahm und feucht über die Haut. Ich war den ganzen Abend draußen, nachdem Chiara zu Bett gegangen war, die Luft liegt in schweren Ballen über den Feldern, es knistert und zirpt. Ich habe mich nackt ausgezogen, mich mit dem Rücken an das warme Haus gelehnt, der raue Putz schabt an meinem Hintern, an den Schulterblättern. Mir war schwindlig. Wolllust, denke ich. Wolllust, was für ein merkwürdiges Wort.

0803

Liebe Anstalt, liest du meine Nachrichten auch? Ich hatte heute Besuch von Signora Ceccarelli, die mit ihren Katzen oben in der Via della Torre wohnt, aus ihrem Küchenfenster sieht man gut zu unserem Haus herunter. Ich weiß nicht, ob sie mich ankommen gesehen oder ob Chiara von meinem Eintreffen erzählt hat, was ich aber nicht glaube. Signora Ceccarelli ist eine jener unglücklich verblühenden Frauen, die sich die abgefallene Jugend mit übermäßig viel Farbe im Gesicht und großgemusterten Kleidern zurückholen wollen und dabei aussehen wie weit über 60. Am Vormittag ist sie viel zu schnell vor unser Haus gefahren und hat mich geweckt. Ich weiß nicht genau, wie spät es war, sie hatte eine Torta della Nonna dabei, mit Schafs-Ricotta, Pinienkernen und Zitronenspalten (so wie Antonio sie mag) und von ihrem selbstgemachten Limoncello, wir haben Torte gegessen und Limoncello getrunken, aber sie war doch enttäuscht, dass sie nur mich angetroffen hat.

0802

Liebe Anstalt, vielleicht liegt es ja an diesem Haus. Ich habe dieses Haus vor ein paar Jahren gekauft, weil es Antonio so gefiel. Und mir gefiel es auch. Ich mochte, dass es nicht direkt im Ort lag, nicht oben am Hügel, sondern an dessen Fuß, knapp am Teich und die Felder vor der Tür. Wenn man oben in der Stadt stand und hinuntersah, war es so wie für kleine Püppchen gemacht, mit ihren kleinen, dummen Herzchen und konzipiert als blöde heile Welt. Wenn man dann zurück nach unten ging und durch die Tür hinein ins Haus, kam man sich für einen Moment viel zu groß vor und als würde man jeden Moment etwas aus Versehen zerschlagen. Heute haftet dieses Gefühl an mir, obwohl ich noch gar nicht oben in der Stadt war, und der Moment will nicht vergehen.

0801

Liebe Anstalt, ich schreibe dir spät. Ich schreibe dir spät, weil ich heute erst in Rom gelandet bin; Chiara hat mich abgeholt, sie fährt noch immer ihren alten, kanarigelben Cinquecento, bei dem ich schon vergangenes Jahr glaubte, es wäre endgültig seine letzte Fahrt. Wir haben zweieinhalb Stunden gebraucht bis nach Santo Stefano, obwohl wir die Route über die A24 genommen haben. Jetzt schläft Chiara, nachdem sie mich noch bekocht hat. Meine Finger riechen nach Fisch. Ich bin mir nicht sicher, ob es klug war, hierher zu kommen. Ich bin mir nicht sicher, ob mir der Wein das Haus nicht noch weiter ins Befremdliche schiebt. Ich kenne jeden Winkel hier, alles ist mir vertraut. Ich weiß nicht, liebe Anstalt, warum ich dir das alles schreibe. Warum ich dir überhaupt schreibe. Es reut mich ein wenig. Es war nur wegen deinem Direktor, weil ich ihn dafür mochte, als ich in Rom in einer Bar kein Geld dabei hatte, um zu bezahlen, und er mir ausgeholfen hat. Weil ich ihn wegen seiner ruhigen Art mochte, und dass wir wenig miteinander gesprochen haben, all die kommenden Tage. Deshalb, und nur deshalb, schreibe ich dir.