Foto: Luca Maximilian Kunze
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Zu Gast im März

18-03 | Fabian Hartmann

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Zu Gast im Mai

17-05 | Philipp Röding

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0430

Ich studiere die rosa Karte, es gibt Malakofftorte und Sachertorte, ich brauche etwas stark Gezuckertes, um den Geschmack der Enttäuschung zu übertünchen. In der Schule mussten wir einen Aufsatz schreiben über Wiener Mehlspeisen, Frau Professor Pollak war ein Feinspitz, sie hielt viel auf Tradition, und ich löschte mit dem Tintentod alle „r“ heraus, bis nur noch Malakofftote und Topfentote übrig blieben. Der Aufsatz war gespeichert mit Mehlspeiseleichen.

0429

Ich beneide eine Einjährige und getraue es mir kaum einzugestehen. Weil sie so viel hat und nicht darum kämpfen muss, während ich meinen Eltern jeden Zipfel Anerkennung entreißen musste und am Ende mit leeren Händen dastand – wie die Kandidaten jener Fernsehshow, die in einer Röhre Geldscheine auffangen müssen, die von einer Windmaschine aufgewirbelt werden, und je hektischer sie nach dem Geld greifen, umso weniger bleibt ihnen am Ende.

0428

Als ich ein Kind war, glaubte ich, dass der Nabel zu einer im Inneren des Körpers verborgenen Tasche führte, eine Höhle, in der man kleine Gegenstände deponieren könnte, ähnlich einem Kängurubeutel. Ich hing dieser Vorstellung noch lange nach, und als ich Raoul kennenlernte, wünschte ich, ich könnte seine Briefe so klein zusammenfalten, dass es gelänge, sie in der Nabeltasche mit mir herumzutragen, als Vorrat für jene Zeit, da er mir keine mehr schreiben würde.

0427

Eine beste Freundin unterstützt und motiviert man in allen Belangen, sonst kann man sich gleich ein Haustier anschaffen, das ist einem auch ohne Gegenleistung treu.

0426

Das Lachen der Frau klingt wie das Rattern einer Nähmaschine, bloß drei Oktaven höher.
„Iredran“, kichert sie, „Iredran“, immer wieder, und ich frage mich, ob es sich um den Namen eines Medikaments handelt oder um den Namen eines Mannes.

0425

Damals, als es noch hieß: Wir beide gegen den Rest der Welt, trug Raoul die Haare halblang und sein Herz auf der Zunge. Wir benannten Sternbilder nach unseren Kosenamen: die große Schneckenhexe, die kleine Kaulquappe, der große Stieglitz. In seinen Armen war ich zu Hause, und wenn er einmal nicht da war, öffnete ich seinen Schrank, um an seinen Shirts zu riechen. Wir wandelten zwischen den spärlichen Möbeln umher wie Vögel auf der Suche nach einem Nistplatz.

0424

Hans greift zum Nachtkästchen, holt die Kronenzeitung hervor, blättert sie auf und legt sie auf Mizzis Hinterteil. „Die Sozialdemokratie war der Anfang vom Ende“, sagt er. „Schauen Sie sich das an: Asylwerber aus Pakistan zündet sich vor Welser Bahnhof an. Der 26jährige sagte noch, das Leben in Österreich sei schlecht, er wolle nicht mehr leben. Sehen Sie, wie er brennt? Das ist wegen dem Polyester. Die Ehrlichen und Fleißigen, die kommen nicht in die Zeitung. Der Ausländer nimmt uns die Arbeit und die Frau weg. Und den Platz in der Zeitung.“

0423

Als Lady Diana gegen die Tunnelmauer krachte, sagte Sieglinde: „Ich hab immer schon gewusst, dass da was läuft mit dem Dodi.“ Sie hatte ihre Zigarette bis zum Filter aufgeraucht, weil verschenkt wird nix, und dann hat sie den Artikel sorgfältig ausgeschnitten und ins Fotoalbum geklebt. Da waren mehr Fotos drin von Lady Dianas Hochzeit als von ihrer eigenen.

0422

Die Frau ist auf der Welt, um alles wie neu aus der Fabrik aussehen zu lassen. Dazu gehört es auch, Schlieren zu entfernen, die sich im Inneren von Haushaltsgeräten festgesetzt haben. Klo, Abstellkammer, Speis, Einbaukasten: Überall dringt er ein, denn sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, und alle sagen ja und amen.

0421

Mit seiner vollen Gießkanne füllt er das Glück in die Frau, bis sie überquillt

und das überschüssige Glück aus allen Poren und Ritzen wieder entweicht. So etwas muss einem erst einmal gelingen!

0420

Mizzis Bauchfleisch zittert im matten Widerschein der Glühlampe. Die zarten Querstreifen in der Nähe des Bauch-Äquators zittern mit. Dort hat einmal ein Kind gehaust, das heute von der Oma gehätschelt wird. Mit Fausthieben von innen hat es zittrige Zeichen in die Haut seiner Mutter gemalt. Male, die nicht mehr auszulöschen sind, nicht einmal von Estée Lauder. Hans teilt die Furchen, Polster und Rillen der Frau wie ein Metzger, der das Fleisch von allen Seiten begutachtet, bevor er mit seinem scharfen Messer die Fettränder entfernt. Bald wird er seine Wurst dazuholen und alles appetitlich anrichten.

0419

Mizzi liegt da wie ein Schnitzel, das geklopft werden will. Ihre Brüste, zwei weiche Fladen, fallen schwermütig zur Seite. Bald schon wird sie durch sein, von beiden Seiten gut angebraten, vorher aber muss sie noch in Öl eingelegt werden.  

0418

Der Federkern jammert. Hans verrenkt den Kopf und saugt Mizzis Nippel in seinen Mund. Mit seinen Lippen erzeugt er einen Unterdruck. Der Schmerz treibt Mizzi die Tränen in die Augen. Sie weiß halt nicht, was gut ist, normal ist das nicht, denkt Hans. Froh und dankbar sein muss sie sein, so einen wie ihn überhaupt bekommen zu haben, einen unkündbaren Beamten mit Wechselschichtzulage.

0417

An den Armen des Kronleuchters glimmt eine 20-Watt-Glühbirne, die anderen fünf hat Hans herausgedreht. Das spart Strom. Außerdem braucht Hans keine Festbeleuchtung. Auf Mizzis Körperkontinent orientiert er sich blind. Hügel, Almen, Gruben, Bäche, Wälder und Felder: Ein für alle Mal erobertes Land, immer wieder umgepflügt und mit frischen Begierden bepflanzt.

0416

„Ich mache Bauch, Beine, Po mit dem Skalpell“, pflegte Nick zu sagen. „Das ist ehrliche Arbeit. Danach sieht man, was man geschaffen hat.“
Statt eines Bildes seiner Kinder trug er Vorher-Nachher-Fotos seiner Patientinnen in der Brieftasche. Jurek hatte der Eindruck, dass Nick der bildhauerische Aspekt seiner Arbeit in den Kopf gestiegen war und fragte sich, wie man so eine psychische Deformation nannte. Michelangelo-Komplex?

0415

Nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass es ihm an Körperspannung fehlte. Wenn sie sich umarmten, fühlte es sich an, als hielte sie eine riesige gekochte Kartoffel im Arm, die jeden Augenblick auseinanderfallen konnte.

0414

Sie kannte sich nicht aus in Viktors Küche und wusste nicht, wo er seinen Wein aufbewahrte, deshalb öffnete sie jeden Schrank, jede Lade. Die Ordnung war erschreckend. Als hätten all die Teller, Töpfe und Pfannen ein für alle Mal ihren Platz gefunden.

0413

Zehn Uhr zwanzig. Er dachte an die Tabletten in seinem Körper, wie sie sich aufgelöst hatten ohne sein Zutun und in der Blutbahn ihren Job verrichteten, punktgenau an den Synapsen andockten und Botenstoffe blockierten. Er mochte das Wort Botenstoffe. Manchmal hatte er das Gefühl, als könne er durch seine Haut hindurchsehen, das Geflecht der Adern betrachten, die Muskelstränge, die Flussläufe der Blutgefäße. Er bildete sich ein, bis tief hinein in die Zellfabriken sehen zu können. Golgiapparat, Cytoplasma, Mitochondrien, das klang nach exotischen Kontinenten, fernen Inseln.

0412

Der Chirurg kann vieles, aber er kann nicht zaubern. Seine Aufgabe ist es, die Leinwand zu straffen, damit das Leben weiterhin darauf zeichnen kann. Denn Älterwerden ist ein Programm mit sinkenden Einschaltquoten. Was fest und straff war, beugt sich der Schwerkraft. Körper in Beugehaft: Das mag keiner sehen, da zappt jeder weg. In der Fernbedienung steckt der Diener drin. Das Fleisch hingegen hat einen eigenen Willen. Es wächst und quillt. Es verwischt die Konturen und legt sich schützend über die Seele – solange, bis der Chirurg das Schnittmuster darüber streift.

0411

Marthas Alter errechnet sich aus der Anzahl der Dehnungsstreifen an ihren Oberschenkeln plus der Anzahl der Jahresringe an ihrem Dekolleté. Ihr Kind ist schon so groß, dass es aus ihrem Leben herausgewachsen ist. Marthas Marktrestwert wird in potentiellen Ehemännern (E) gemessen. Auf der Marktrestwert-Skala erreicht Martha einen Wert von drei E.

0410

Es sieht ein wenig lächerlich aus, aber wenn es nicht lächerlich

aussieht, dann ist es keine Liebe.

0409

Der Flur der Wartenden ist mein Fluchtpunkt, hier raste ich, hier spürt mich keiner auf. Ein Ort, an dem die Zeit so langsam vergeht, dass es absurd wäre, eine Uhr aufzuhängen. Die meisten Langzeitarbeitslosen lungern herum, selten wird einer aufgerufen. Einige bewegen sich kaum noch, sie atmen ganz flach. Bei manchen bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch atmen.

0408

Ich betrachte die Langzeitarbeitslosen gerne und ausführlich. Ihre Augen sind unbewohnte Kammern, für die man kein Einrichtungsgeld beantragen kann. Ihre Haut ist wurmstichig, sie leiden wahlweise an Jugendakne oder Altersakne. Es ist ein Merkmal der Langzeitarbeitslosen, dass ihre Haut aktiver ist als sie selbst.

0407

Ich habe mir meine Erwartungen abtrainiert.
Wie das ginge, fragt Maja.
Ich sähe jeden Morgen in den Spiegel und sage: Mehr kriegst du nicht.
Das stimmt zwar nicht, aber die Idee gefällt mir.

0406

Bei einem Multimorbiden gehen die Leiden nahtlos ineinander über, bis man nicht mehr unterscheiden kann, was Originalsymptom ist und was Nebenwirkung der Therapie.

0405

Im Alter trocknet der Mensch aus, er verdorrt und verwelkt, bis schließlich alle Flüssigkeit entwichen ist. Ich stelle mir vor, dass die Papierhaut alter Menschen knistert. Ein verhaltenes Knistern, wie wenn eine Katze über Seidenpapier läuft.

0404

Ich stelle mir vor, dass es eine Boutique gibt im Souterrain der Klinik, die Accessoires wie Katheter, Magensonden, Kanülen, Stents und Verbände in allen RAL-Farben anbietet. Medizin-Mode, ein Hoffnungsmarkt.

0403

In einen Krankenhausgarten hineinschauen ist wie Zukunftsfernsehen, mit

den Kanälen Demenz, Arthrose, Zirrhose. Der Krankenhausgarten tut so, als sei er ein richtiger Garten, dabei ist er eine einzige Beschwichtigung und nur angelegt, um auf den Tod vorzubereiten. Buchsbaum, Immergrün, Ringelblume, Buschwindröschen: Alles, was hier wächst, ist Friedhofsgestrüpp.

 

0402

Das Krankenhaus liegt da wie eine schlafende Schildkröte. Das erstaunt mich immer wieder: Weshalb man es einem Gebäude nicht ansieht, wenn darin ausführlich gelitten wird. Ich erwarte eine flammende Hitze, die von den Mauern abstrahlt, zumindest einen rötlichen Wandausschlag.

0401

Der Mund ist ein überschätzter Körperteil. Solange die Lippen geschlossen sind, hält sich das Elend in Grenzen, der Blick in den Schlund aber offenbart die ganze Entsetzlichkeit der Kreatur. Nichts anderes als ein Verdauungsschlauch, aufgepeppt mit ein paar Deko-Elementen.