Foto: Luca Maximilian Kunze
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Zwischen Schaumstoff I

Plötzlich war Oma tot. Von einem Tag auf den anderen. Sie ging am Abend schlafen und stand in der Früh nicht mehr auf.
Mutter sagte, dass Tante Lucille sie gefunden hatte. Gefunden war wohl übertrieben. Sie rief Oma aus der Arbeit an, aber Oma ging nicht ran. Sie rief auch nicht zurück. Tante Lucille fuhr in ihrer Mittagspause zu ihr, dachte vielleicht unterwegs, dass Oma wieder ihr Telefon verräumt hatte oder es irgendwo im Haus herumkugelte. Einmal hatte sie es in den Brotkorb gepackt und Mutter hatte sie stundenlang nicht erreichen können. Nachher hatte sie mit Oma deswegen am Telefon gestritten und sie senil genannt. Oma hatte ihr geantwortet, dass sie Wichtigeres zu tun hätte als auf depperte Anrufe zu warten.
Doch als Tante Lucille in Omas Haus ankam, war es leer und still und kalt. Oma lag im Bett, ihre weißen Haare zu einem Zopf geflochten, denn so machte sie es immer noch, nach all den Jahren. Aber auch Oma war kalt, obwohl sie unter der Bettdecke lag. Sie war kalt und nicht mehr auf dieser Welt.
So stellte ich mir das vor, als Mutter sagte: „Oma ist tot, Tante Lucille hat sie gefunden.“ Viel mehr sagte Mutter nicht, außer diesen einen Satz. Dann begann sie zu weinen.

Ich nahm Daisy an der Hand, zog ihr eine Jacke über und ging wortlos mit ihr raus. Sie war wie immer, nur schweigsamer, aber das war schon alles. Draußen ließ mich der Wind frösteln, meine eigene Jacke hatte ich vergessen, nicht einmal ein Taschentuch hatte ich dabei. Es kitzelte mich ganz eigenartig in der Nase, aber ich musste nicht weinen. Dann brannten meine Augen, aber ich musste nicht weinen. Ich blieb stehen und legte meine Hand auf Daisys Kopf, auf ihre weichen Haare. Sie schaute hoch zu mir und ihre Augen waren wie immer, tränenlos und blau. Ich schaute sie an, strich ihr über den Kopf und wünschte, dass sie das Zittern in meiner Brust wie ein Blitzableiter erden konnte. Dass „Oma ist tot“ über meine Hand durch sie hindurch in den Boden fuhr und dort blieb. Am besten für immer.
Doch Daisy blinzelte mich an und nichts passierte. Die dicke Luft staute sich weiter in meinem Kopf anstatt zu entweichen, bis sie von innen gegen meinen Schädel drückte und meine Augen davon pochten. Mir wurde schlecht und ich ließ Daisy los. Versuchte zu atmen, einmal, zweimal. Alles war gleich, nur lebte Oma nicht mehr. Es kam mir surreal vor, was war das für eine Wirklichkeit in der Oma tot war. Waren wir am falschen Filmset? Diese Szene war nicht uns bestimmt.
Daisy streckte mir kurz ihre Hand entgegen, ließ sie aber wieder fallen. Ich hätte keine Kraft gehabt, ihr meine zu reichen.
Ich bemerkte erst jetzt, dass wir stehen geblieben waren, mitten auf dem Gehsteig. Menschen gingen um uns herum als wären wir Liftfasssäulen. Absätze klackerten, jemand rauchte eine Zigarettenwolke in unsere Richtung, Daisy wurde von einem Hund angerempelt. Alle gingen weiter. Alles ging weiter. Nur wir nicht.
Ohne Oma war alles anders.

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