Foto: Luca Maximilian Kunze
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Der zweite Protagonist


Sehen Sie den Protagonisten? Nein, wie sollten Sie auch, er ist ja gar nicht im Bild. Im Bild ist nur meine Stimme. Sie sehen den Protagonisten nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass er nicht glücklich aussieht. Genaugenommen sieht er sogar sehr traurig aus. Wissen Sie warum er traurig aussieht? Ich werde es Ihnen sagen: Er kann nicht sprechen. Er kommt einfach nicht zu Wort. Und das hat einen guten Grund. Ich lasse ihn nämlich einfach nicht sprechen. Es ist kein Platz für seine Stimme. Auf dem ganzen Blatt hier stehen nur Wörter, die so aussehen sollen, als wären sie aus meinem Mund gekommen. Natürlich habe ich keinen Mund, aber für Sie ist es sicher einfacher sich vorzustellen, dass Wörter aus einem Mund kommen. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Wörter einfach nur da sind. Sie kommen überhaupt nirgendwo her. So wie der Protagonist. Er kommt eigentlich auch nirgendwo her. Er ist nicht einmal da. Es gibt ihn gewissermaßen gar nicht. Ich behaupte einfach nur, dass er da ist. Und ich behaupte ebenfalls, dass er traurig ist. Und das ist doch logisch. Sie wären auch traurig, wenn ich Sie nicht zu Wort lassen kommen würde. Ich gebe dem Protagonisten einfach nicht die Möglichkeit hier zwischen meine Wörter seine eigene Meinung einzuschieben. Natürlich hat er gar keine Meinung, und wenn er eine hätte, dann wäre es in Wirklichkeit nur eine von mir erfundene Meinung, und mich gibt es ja auch nicht, aber es ist für Sie leichter vorstellbar, wenn es einfach so wäre, wie Sie es gerne hätten, nicht wahr? Sie haben ja eigentlich auch keine Meinung. Es gibt Sie gar nicht. Wieso sollte es Sie auch geben? Ich lasse Ihnen ja schließlich auch keinen Platz hier etwas loszuwerden, oder? Ja, man könnte fast sagen, dass ich ein ziemlicher Egoist bin, der sich selbst für sehr wichtig hält, obwohl es ihn nicht einmal gibt. Der Erzähler existiert nun einmal nicht. Er behauptet vielleicht, dass er grüne Haare und Stöckelschuhe hat, sowie 23 Schreibmaschinen und mindestens 30 Aktentaschen besitzt, aber das macht ihn um keinen Deut realer. Langsam tut aber sogar dem Erzähler der Protagonist Leid, so traurig wie er da dreinschaut. Der Gesichtsausdruck würde sogar einen handelsüblichen Bürostuhl zum Weinen bringen. Genau genommen weint der Erzähler auch in diesem Moment. Es gibt ihn zwar nicht, aber das Weinen ist ganz deutlich zu vernehmen. Er kann aber nichts tun. Wie Sie sehen, muss er einfach weitererzählen. Er ist einem grausamen inneren Zwang unterworfen. Er möchte den Protagonisten ja gar nicht quälen, aber er kann einfach nicht anders. Ich wollte ihm schon oft sagen, dass er sich in Therapie begeben soll, aber er lässt mich ja genauso wenig zu Wort kommen.

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