Foto: Luca Maximilian Kunze
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Wahnsinn, auf einmal auf dieses Eingangstor zuzugehen, das man bisher immer nur von Fernsehdokus und Schwarz-Weiß-Bildern her kennt, findet Jeanne. Und durch dieses Gebäude sind die Häftlinge also regelmäßig ein- und ausgegangen, versucht sie sich vorzustellen und in eine Zeit hineinzuversetzen, die nicht die ihre ist. Heute möchte Jeanne die ganze Intensität des Einfühlens erleben, ein Gespür dafür bekommen, wie es hier wohl gewesen sein muss. Zuhause konnte sie das schon immer ganz gut eigentlich, also zumindest glaubt sie das. Es ist so: Daheim oder auch sonst im Alltag stellt sie sich oft vor – so ein bisschen wie in einem Film, Schindlers Liste zum Beispiel oder Der Pianist – in einem Ghetto, genauer gesagt im Warschauer Ghetto, zu sein und später ins Vernichtungslager deportiert zu werden. Ursprünglich dachte sie dabei natürlich immer an Auschwitz. Aber dann hat ihr Anja einmal gesagt, dass die Deportationszüge des Warschauer Ghettos in erster Linie nach Treblinka fuhren, und dass es in Treblinka anders als in Birkenau nicht sehr viele Häftlingsbaracken gab, weil so gut wie alle, egal ob arbeitsfähig oder nicht, sofort nach der Ankunft vergast worden sind. Und das hat dann Jeannes Vorstellung kaputt gemacht, weil sie ja, auch wenn die Gedanken frei sind, schon den Anspruch auf Realität und Faktentreue hat. Aber worauf sie eigentlich hinaus will: Sie hat da immer so einen regelrechten Film laufen, taucht, ja, man kann sagen, in solchen Fantasien ab, bis sie sich irgendwann so massiv rein gesteigert hat, dass sie in so einer Drittes-Reich-Ghetto-Judenstern-Deportations-Vernichtungsstimmung ist und mithin nachts, wenn alle bereits schlafen, nicht mehr aufs Klo gehen kann wegen der ganzen unheimlichen Bilder im Kopf.

Mag sein, dass Jeannes Vater gar nicht mal so Unrecht damit hat, wenn er sagt, sie beschäftigt sich zu sehr mit den ganzen Berichten und Bildern. Andererseits, sie kann's auch nicht mal so eben abstellen, das Interesse ist einfach stärker, dagegen kommt sie nicht an, oder vielleicht doch, aber dann ist es eben der Wille, der fehlt, um dagegen anzukommen.

An diesem denkwürdigen Ort möchte sie der damaligen Stimmung noch näher kommen, als es ihr bisher mit Bildern, Berichten, Artikeln, Filmen und Dokus gelungen ist, sie möchte die Entfernung überwinden, greifen können, einen Kontakt herstellen, in Beziehung gehen.

Alle laufen jetzt nacheinander durch das Tor, das Berühmt-berüchtigte. Es steht offen; allerdings geht man nicht durch die kleine Arbeit-macht-Frei-Gittertür hindurch, sondern durch das rechtsseitig geöffnete Gittertor, das drum herum ist – Jeanne weiß jetzt nicht, wie sie das besser beschreiben soll. Nur im Vorbeigehen werfen ihre Mitschüler einen Blick auf die Toraufschrift. Einige kommentieren sie zwar, aber keiner – mit Ausnahme von ihr und Frau Keblatt – hat den Impuls, einen Moment stehen zu bleiben, um sie sich näher anzusehen oder gar mit den eigenen Händen anzufassen. Dass selbst Anja, die eine Koryphäe in Sachen Shoa ist oder sich zumindest als eine solche bezeichnet, keinen Anreiz verspürt, anzuhalten, um das Tor auf sich wirken zu lassen, verwundert Jeanne, ehrlich gesagt, doch ziemlich. Immerhin, soweit sie sich erinnern kann, ist Anja auch noch nie in einer KZ-Gedenkstätte gewesen.

Vor dem Eingang stehend, versucht Jeanne in die Zeit zurück zu reisen, sich einzufühlen, hineinzuversetzen. Frau Keblatt, die neben ihr steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, merkt betroffen an, So ein kleines Tor und soviel Leid dahinter. Jeanne sagt nur ja, weil ihr spontan nichts anderes einfallen will. Nun steht sie hier, vor dem Ort des Geschehens, und spürt nichts Besonderes in sich aufwallen. Möglicherweise aber ändert sich das auch schlagartig, wenn sie erst mal einen Fuß hineinsetzt.

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