Foto: Luca Maximilian Kunze
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Die Mädchen rund um Kaki blicken entsetzt auf den roten Fleck, der auf dem Boden zu sehen ist. Die einen sagen Oh Gott, die anderen halten sich den Mund zu und wieder andere tun beides. Jeanne weiß, welcher Vermutung sie erliegen, hatte sie doch zunächst das gleiche gedacht: Blut.

Allerdings, wenn sie genauer darüber nachdenkt, so wirklich glauben kann sie es eigentlich doch nicht. Ja, ehrlich gesagt, hält sie es sogar für ziemlich unwahrscheinlich. Blut... wenn es so wäre, müsste dann der Fleck auf dem Boden nicht bräunlich aussehen statt rot? Und überhaupt: Kann Blut in einen Betonboden einziehen und noch siebzig Jahre später sichtbar sein? Oh Gott, guck doch mal hin, sagt Kaki, die mit dem Zeigefinger auf den mysteriösen Fleck deutet. Alle sollen es sehen, hier in diesem Leichenkeller, das angebliche Blut, die Hinterlassenschaft des Massenmordes, das Stück Vergangenheit, das sich geradeso in die Gegenwart geschleppt hat.

Was auch immer das auf dem Boden ist; Jeanne weiß es zu schätzen, zum ersten Mal an diesem Tag ein wenig Ergriffenheit in den Gesichtern ihrer Mitschüler zu sehen; insbesondere nachdem Ole und Lene bis jetzt ausschließlich damit beschäftigt gewesen sind, rumzublödeln und Witze zu machen. Ehrlich gesagt, hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass ihre Freunde so desinteressiert sein würden; dass es überhaupt Leute in ihrem Alter geben könnte, die kein Interesse für den Nationalsozialismus und den Holocaust aufbringen. Jeanne muss kurz überlegen. Da gibt es so eine Redewendung - Ja, genau, sie hat, was die Wissbegierde und die Faszination betrifft, immer von sich auf andere geschlossen. Und nun sieht sie, zugegeben, mit einiger Verwunderung, dass man das offenbar nie tun kann, ohne sich vielfach zu irren - selbst wenn es um den Holocaust geht.

Kaki kommt von dem Fleck nicht mehr los, sie geht einmal um ihn herum, wie um eine Sensation, die man von allen Seiten mustert, um sie sich einzuprägen und ein Stück weit zu eigen zu machen. Ergriffenheit, assoziiert Jeanne. Da sind ihr Kaki und all die anderen, die ihre Oh-mein-Gott-Stimmung mitteilen, offenbar ein großes Stück voraus; denn bis jetzt macht alles, was sie bereits gesehen hat, fast gar nichts mit ihr. In ihr tut sich eine Brache auf, die der hinter dem Eingangstor des Lagers ziemlich nahe kommt. Statt sich gefühlsmäßig dem vergangenen Unglück anzunähern, ist Jeanne in der unerreichbaren Ferne steckengeblieben. Nicht einmal die hartnäckige Vorstellung, dass auf jedem Fleck, auf dem sie steht, einmal ein Toter gelegen hat, hilft ihr auf die Sprünge. Frau Keblatt hat das heute früh nämlich in ihrer Ansprache gesagt, also dass auf jedem Fleck, auf den man tritt, mindestens ein Toter gewesen ist. Auf jedem Fleck, also auch auf diesem, den Kaki und ein paar andere so entgeistert anstarren; vor allem auf diesem, ergänzt Jeanne in Gedanken, denn das hier ist ja der Leichenkeller. Ob das wirklich der original erhaltene Leichenkeller ist oder nur eine Rekonstruktion? Dass hier einmal hunderte von Toten gestapelt lagen, kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen; bzw. kann sie sich nicht vorstellen, in einem Raum zu stehen, in dem sich einst Ermordete getürmt haben. Wenn sie hier einmal eine Nacht verbringen müsste, fantasiert Jeanne und erschaudert prompt; da würde sie nur zusammengekauert in der Ecke sitzen und in einer Tour schreien. Irgendwie ist ihr gerade danach, Ole mit ihrer Vorstellung zu konfrontieren. Oah, stell dir mal vor, du müsstest ne Nacht hier verbringen, sagt Jeanne, ich würde das gar nicht aushalten, ich würd mir vor Angst in die Hosen scheißen. Echt? Ole grinst. Ich find's voll geil hier, hier ist es doch wenigstens schön kühl; würdest du mir nen Laptop, nen Kaffee und ne Matratze hinstellen, könnte ich's hier locker n paar Tage aushalten.

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