Foto: Luca Maximilian Kunze
Foto: Luca Maximilian Kunze

Zu Gast im März

18-03 | Fabian Hartmann

> zur Biografie

> zum online-KLISCHEE

Zu Gast im Mai

17-05 | Philipp Röding

> zur Biografie

> zum online-KLISCHEE

0522

Polnischer Abgang

 

Ich verließ den Großraumwagen, lief ein Stück weiter und entschied mich für ein abgetrenntes Abteil, das mit einem blickdichten, blauen Vorhang zugezogen war. Falsche Entscheidung. Hinter der Tür prallte ich gegen eine stickige Wand aus Heizungsluft und eigentlich wusste ich beim Öffnen, ich würde auch hier nicht lange bleiben. Der Zug schaukelte, wurde schneller. Ich trat ein, zog meinen Mantel aus, von dem ich mir sicher war, dass ich ihn in Madrid nicht brauchen würde und stopfte ihn in den Sitz, das trockene Innenfutter nach oben und zum Draufsetzen bereit. Ich verstaute umständlich und extralang meinen Koffer in der oberen Ablage, um das Hinsetzen möglichst lange heraus zu zögern. Meinen Rucksack quetschte ich mit Gewalt unter den zerschlissenen Sitz, in dessen Armlehne sich rechts und links Aschenbecher verbargen, die seit langem nicht wurden. Es roch nach süßlicher Bananenschale und Kekskrümeln in den Polsterritzen. Erst als mich der böse Blick des verschlafenden Hippies auf dem Sitz gegenüber traf, der sich das Abteil zuvor als Schlafzimmer ausgesucht hatte und nicht mit meiner Anwesenheit einverstanden schien, zwang ich mich auf meinen Platz. Er starrte weiter, bis sich seine Pupillen hochdrehten und er den Kampf gegen seine zufallenden Augenlider verloren hatte. Sein Gesicht war fleckig. Die dünngespannte Haut um die Wimpern stellte sich in kleinen Fetzen auf und schälte sich seltsam ab. Die Enden seiner unsauber gedrehten Dreadlocks verschwanden in einer weinroten Jacke voller Aufnäher.

 

Ich sank leise in meinen Sitz, merkte, ich würde es nicht lange aushalten. Krampfhaft starrte ich aus dem Fenster in die milchige Suppe aus fahrenden Häusern, bis aus dem bewegten Vorstadtbrei eine gestreifte Wand aus trübem Himmel und kahlen Wäldern wurde, die mich schwindelig machte. Ich presste die Augen zusammen. In weniger als 24 Stunden würde ich in Madrid sein. Was mich dort erwarten würde, in der Stadt, die ich nicht kannte und die mein Bruder so geliebt hatte, wusste ich nicht. Ich hatte Angst, aber es war die einzige Chance, weiterzuleben, Antworten zu finden und die Zeitlupe meines eigenen Lebens zu stoppen. Mir war schlecht. Seit Philipp tot war, waren fünf Monate vergangen. Er war plötzlich weg und von einem Tag auf den anderen fühlte sich mein Leben schlimm an. Es war bedeutungslos, hatte seinen Wert verloren. Ich schlief, wachte auf, weinte, schleppte durch die Stunden, weinte und verstand nichts mehr davon, zu leben. In meiner Welt war ich zur bloßen Statistin geworden und fühlte nichts mehr aus der Zeit davor. Ich paddelte durch verzweifelte Tage, bekam nichts zu fassen, das mich trösten könnte und meinem Leben einen Hauch von Normalität gab und alle Menschen, die dazu im Stande gewesen wären, mir zu helfen, schwammen wie ich. Und immer wieder stellte ich mir die gleichen Fragen: Was war in Madrid passiert?

 

Mir war nur noch der Schlaf geblieben. Himmlisch-süßer Schlaf der sich zäh wie Honig vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen ausdehnen ließ. Eines der wenigen Dinge, die sich vorher genauso anfühlten, wie danach. Außerdem merkte ich meinen massigen Körper nicht mehr, sobald ich im Bett lag und die Augen geschlossen hatte. Seit Philipp tot war, schleppte ich tagsüber diese dicke Fettschicht mit mir herum, den imaginären Berg, der mich seit letztem Oktober zu einer wulstigen, unbeweglichen Lehramtsabsolventin Ende zwanzig werden ließ. Ich war unfähig weiterzuleben und tat es doch. Und ich spürte sie täglich, die gewaltige Ladung auf meinen spröden Knien und Hüften, die sich mit nur einem Anruf über meinen Körper gestülpt hatte. Wenigstens im Schlaf ließ mich alles in Ruhe und es war wie eine alte VHS-Kassette, die ich Nacht für Nacht hin und her spulte, um die Lieblingsszenen aus meinem alten Leben anzuschauen. Ich klammerte mich an die Nächte und hoffte, meinen Schlaf würde mir niemand nehmen. Nicht meine Schwester, nicht mein verstummter Vater, nicht meine Mutter, die noch lebte und trotzdem mitgestorben war. Ich dachte es bis zu der Nacht, als meine VHS-Kassette nur noch aus Bandsalat bestand, ich hellwach in meinem Bett lag und nur noch einen Gedanken hatte: Madrid.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0