annoncen, #2
ich bin verschwunden an diesem abend und bald ins bett gegangen, schließlich war am nächsten tag frühschicht angesagt. die verfluchte kellnerei. aber ein job ist ein job ist ein job. und bringt
geld. kellnern auch recht viel trinkgeld, wenn ich es nur schaffe, selbst zu den ekelhaftesten kunden freundlich zu sein. lieb lächeln fällt dir leichter, wenn du die euros im hinterkopf
behältst, die du dafür kriegen kannst … vielleicht auch bald wieder die schillinge oder gar kronen, vorwärts in die vergangenheit, wer weiß? an einem sommerabend spricht tina wieder mit mir. wir
sitzen abends in der küche und essen kartoffelpuffer, trotz offenem fenster steht die luft. ich möchte eine betreuung für meine diplomarbeit und tina endlich einen job. auf der wackligen
holzplatte des küchentisches liegen drei tageszeitungen: die usa haben ihr triple-a-rating verloren, in griechenland wird protestiert und die arbeitslosigkeit in österreich ist stabil geblieben
(noch, denke ich). zuoberst der teil mit den rot markierten stellenangeboten. escort-service? tina, was denkst du dir? // naja, da begleitest du halt eben typen, die gerade keine frau haben,
zu irgendwelchen anlässen … // und danach begleitest du sie noch sonstwohin … // glaub ich nicht, und wenn, dann kannst du es dir aussuchen! außerdem ist es gut bezahlt … // sicher noch besser,
wenn du dich an die ungeschriebenen konditionen hältst! // hör auf, du bist gemein! ein versuch, zu deeskalieren: ich schiebe die zeitung weg und streiche eine haarsträhne aus tinas gesicht.
versuche, nicht daran zu denken, dass vielleicht niemand meine diplomarbeit betreuen kann bis zum nächsten semester, weil die ganze universität überlastet ist. nicht an den aktuellen krach im
elternhaus und nicht daran, dass marlene schwanger ist, obwohl sie ihren freund erst seit einem halben jahr hat und ihre stelle erst seit drei monaten. nicht an tina, die eine erträgliche arbeit
und selbst verdientes geld braucht. und einen mann vom typus großer, starker bär, sagt sie immer, mit breiten schultern zum anlehnen. aber da ist nur das große, kalte sternbild am
himmel, das durch unser küchenfenster hereinblickt. mir kommt vor, es würde über uns spotten. aber sterne kennen keine gefühle, nicht einmal schadenfreude.
im herbst war tina zum ersten mal beim arbeitsamt. daraufhin hat sie einen kurs besucht, sie besitzt nun den computer-führerschein. ein kfz-führerschein wäre ihr lieber gewesen. in folge hat sie
sich noch einmal in den bewerbungsprozess begeben. ein paar dutzend absagen, eine zusage. ich stehe in der küche und räume den kühlschrank ein. im winter sind obst und gemüse selten frisch und
nie billig. mein lohn ist heuer nicht gestiegen, die inflation schon. sparpakete in griechenland und irland, für mich buttertoast und kaffee zum frühstück. heute steht diplomarbeit auf dem
programm und in versalien in meinem taschenkalender. ein dokument mit unterüberschriften: 1.1. Zur sozialen Situation von Frauen in der Zwischenkriegszeit. 1.1.1. Zur generellen Lage am
Arbeitsmarkt. 1.1.2. „Frauenarbeit“ und Erwerbslosigkeit. tina kommt oft spät nach hause, manchmal, so wie heute, erst am vormittag. als erstes steigt sie für gewöhnlich unter die dusche und
macht sich zurecht. über die herren erzählt sie wenig. erst einmal sei ihr eine dame untergekommen. manchmal erwähnt sie ein detail, sagt, gestern habe sie eine quasselstrippe erwischt oder einen
vierfachen familienvater. wirklich brutal ist noch keiner gewesen. // und unwirklich? // geht dich nichts an … oft sind es ältere semester aus besseren häusern, zu denen sie geschickt
wird wie ein paket. männer, die ganz locker einen hunderter in dem restaurant lassen, wo ich serviere und einen pro woche bei der babysitterin, damit sie dort oder anderswo ungestört dinieren
können. einen auf dem schreibtisch ihres psychologen und einen auf dem nachttisch eines gürtel-etablissements, das sie aufsuchen, wenn sie weder zu abend essen noch die nummer von tinas
vorgesetztem wählen wollen. tina zündet sich eine zigarette an und schlürft aus ihrer dampfenden espresso-tasse. sie legt siebzig euro auf den tisch für zwei monate elektrisches licht und warmes
wasser.
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