miniaturen in ich-form, #2
sie soll auch eine arbeit haben
„wenn sie kurz draußen platz nehmen …“
ich bin erstaunt, gleich am ende des bewerbungsverfahrens angelangt zu sein, obwohl es erst eine minute her ist, dass ich mit drei anderen rund um diesen tisch gesessen bin und indiskrete fragen
beantwortet habe. die top und flop 10 meiner persönlichen eigenschaften. [ich bin faul und unverschämt, hätte ich am liebsten geantwortet.] meine privaten ziele für die nächsten 10 jahre. etc.
etc.
es gibt nur eine gewinnerin – wie beim mensch ärgere dich nicht, mit dem feinen unterschied, dass die gewinnerin beim assessment center nach dem verlassen des spieltisches noch nicht weiß, ob sie
gewonnen hat, sondern mit den anderen in einer stuhlreihe sitzt, auf dem sessel hin und her wetzt, überlegt, ob es jetzt fehl am platz wäre, die toilette aufzusuchen … als kind musste ich immer
auf die toilette, wenn meine mutter mit mir einkaufen war, oder auf der bank, oder am postamt. sie wollte dann – zumindest, wenn sie es eilig hatte, und sie hatte es meistens eilig, – dass ich es
mir verhielt. wenn die alte dame vom postamt mir ein zuckerl in die hand drückte, musste ich sagen: „für meine kleine schwester auch eines, bitte.“
der mann kommt aus dem büro, vor dem wir gewartet haben, geradewegs auf mich zu. drückt mir die hand. ich habe den job bekommen. am liebsten würde ich zu meinem künftigen chef sagen: „für meine
kleine schwester auch einen, bitte.“ die kleine schwester ist heute einen kopf größer als ich [1.68, und sie könnte noch wachsen] und sie wird immer dicker. während ich aus wut auf alles
verzichte, was mir zustünde, verschlingt sie aus demselben beweggrund alles, was in ihre reichweite gelangt. meine wut ist älter als ihre. sie beginnt mit der wut auf ihre geburt. auf die eltern,
die mich nicht mehr bemerkten. sie waren glücklich mit dem kleinen wurm, der sich all ihre aufmerksamkeit einverleibte – und ich flüchtete zu meinen puppen oder ging zum spiegel, um mich zu
versichern, dass ich allemal noch interessanter sei als sie.
ich schreibe nicht über das, was mir nahe liegt. ich schreibe nicht über meine kleine schwester, die seit zwei jahren erfolglos bewerbungen schreibt, wenn sie nicht gerade isst oder fernsieht.
ich schreibe keine autobiographie: ich lasse eine protagonistin morgens unter der dusche singen und ihre erlebnisse der letzten tage revue passieren. ich dusche nie morgens, ich dusche am
liebsten, nachdem ich von der arbeit komme, heißt meistens nachmittags. ich schreibe nicht über meinen letzten besuch im kaufhaus: vor dem spiegel in einer kinderhose. ich trage seit kurzem
wieder dreistellige kleidergrößen oder solche kleiner gleich 14. vielleicht sollte ich aufs neue anfangen zu kochen.
ich komme spätabends nach hause. du bist anscheinend ausgegangen. ich setze mich an den schreibtisch, öffne mein postfach und finde darin eine eingangsbestätigung von einer literaturzeitschrift
vor – ich bin fast selig über so viel höflichkeit. solltest du eines tages beginnen texte abzuschicken oder dich wieder für jobs bewerben, wünsche ich mir, dass auch du immer
eingangsbestätigungen und zu- oder absagen erhältst.
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