Theater
Vera hatte, natürlich, schon einen Sinn für Künste, aber ins Theater konnte man mit ihr nicht gehen. Ich versuchte es zwei Mal: zuerst eine Boulevardkomödie mit Verwechslungen und Türenknallen,
beim zweiten Mal dann "Romeo und Julia". Sie kam jedes Mal gut angezogen und etwas zu aufgeregt. Die große Eingangshalle imponierte ihr schon so, dass sie nur Blödsinn quatschte. Im ersten Stück
dann amüsierte sie sich halbwegs, aber nur über das furchtbar Dumme: über stolpernde Diener und kreischende Damen. Es war ein Trauerspiel, meine große weltumfassende Vera vor einer Bühne so klein
werden zu sehen. Ihr war nicht einmal bekannt, dass man zum Schluss zu klatschen hatte.Aber trotzdem wollte sie unbedingt wieder. Ich meinte, ihr Feinsinn wäre wohl für das Tragische
empfindsamer, und kaufte zwei Karten für "Romeo und Julia". Nach drei Minuten begann sie schon zu gähnen, dann räkelte sie sich in ihrem Sessel hin und her, als würde sie keine bequeme Haltung
finden können und als wäre das weit tragischer als die größte Liebesgeschichte der Menschheit. In der Pause behauptete sie, die Aufführung gefiele ihr gut, sie verstehe nur nicht ganz, warum die
Leute alle so modern gekleidet wären und doch so unverständlich altmodisch sprächen. In der zweiten Hälfte dann versank sie ganz in sich. Das Smartphone beleuchtete ihr Gesicht matt-bläulich, was
ihren Zügen das geheimnisvoll Schöne nahm: Das farbenfrohe Veragesicht wurde zur graublauen Steppe, ihre Züge waren gleichmäßig und plötzlich langweilte ich mich, wenn ich sie ansah. Und während
Julia mit dem Dolch an der Brust ihren Monolog zum Sterben hielt, weinte ich: Der wahre Kern der Kunst war die Banalität eines Mobiltelefons, eines Gähnens, einer gesichtslosen Vera. Julia starb
zu meinem Beschluss, dass ich Vera nicht mehr sehen wollte, da sie meine Welt zur Illusion gemacht hatte, zu einem frommen Künstlertraum.
Nur hielt ich mich nicht daran. Als wir das Theater verlassen hatten und im Schneeregen zur U-Bahnstation gingen, als Vera wieder etwas seltsames, selbstgefälliges und Wahres sagte, als wir mit
dem Lift in die Erde hineinfuhren, in Veras unterirdischen Lebensraum, und als das Licht flackerte - da war sie wieder zur wirklichen Erdvera geworden. Ich hätte Lust gehabt, sie zu malen, und
darum ging ich nicht fort. Beinahe war es, als wären wir nie im Theater gewesen, was ich nun sehr wünschte. Denn so bleib die traurige Gewissheit, dass Vera zu einer faden blaue Fläche wurde,
wenn man sie mit einer Bühne verglich.
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