Foto: Luca Maximilian Kunze
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Vera

Erst dachte ich, sie hätte gesagt, dass sie Model sei. Und ehrlich gesagt, es wunderte mich. Nicht weil Vera hässlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Groß und breit und unzerbrechlich lernte ich sie kennen (und, wie passend, in der U-Bahn. Unsere Freundschaft begann unterirdisch.) Ihr Pullover war grobmaschig, raue Lederstiefel, laute Stimme. Unter einer Baskenmütze schwarzes, krauses, ich nenne es: afrikanisches Haar, Katzenaugen in dunkelgrün, ihre Haut nenne ich nordeuropäisch, schneeig, aber in der Kälte immer gerötet. Die linke Wange war eine trockene Wüste,  die rechte ein saftiger Hügel. Die Oberlippe ein schmaler Trampelpfad, die untere mehrspurig, eine Autobahn. Über ihre Stirn zogen sich Falten wie durch Ackerland. Kurz: Vera sah aus wie die Erde, eine ganze Welt für sich. Eine, die nicht in die Fashionwelt passte.
Irgendwann erfuhr ich, dass ich mich verhört hatte. Tatsächlich hatte sie damals "Modell" gesagt. Sie war Malermodell. Sie stand tagsüber in den Ateliers von Künstlern, nackt oder im historischen Kostüm oder auch im Grobmaschenpullover, und wurde gemalt. Sie verdiente nicht viel, aber genug, um zu essen und nachts U-Bahn zu fahren.
Tut man das denn noch, fragte ich sie, malen die Künstler denn wirklich noch Figuren der aus Wirklichkeit ab, so detailgetreu und haargenau, dass sie sie dabei vor Augen haben müssen? Wären sie dann denn nicht mit einem Fotoapparat besser beraten? Vera lachte.
Natürlich nicht, sagte sie, meine Maler malen abstrakt, und manche malen gar nicht, sondern hauen die Leinwand kurz und klein, einfach so.
Und doch brauchen sie dich als Modell?
Gerade deswegen.
Ich lernte, dass Vera das Stück Wirklichkeit war in der Kunst, die Klarheit im Farbenwirrwar, die Erde in den geometrischen Linien, die Welt im schwarzen Quadrat, das Greifbare im Konzept.
Nachdem ich Vera kennen gelernt hatte, lernte ich niemanden mehr kennen. Es war nicht mehr notwendig.

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