Foto: Luca Maximilian Kunze
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Eine Lücke aus dem Arbeitstitel „Working Class Hero“

[…] Die Erkenntnis, dass Arbeit tatsächlich ausnahmslos mühselig ist, aber genau dadurch zu den Grundpfeilern einer jeden vollkommenen Freude gehört, hat lange gebraucht, um ihren Weg in Julians Kopf zu finden und eine Höhle darin auszuschlagen. Er empfand Arbeit lange Zeit als weit entferntes Abstraktum, mit dem er nichts am Hut haben wollte. „Modern muss man sein und denken“, dachte er sich. „Arbeit gibt es bloß für schmutzige und primitive Menschen, die sich ihres Verstandes nicht bedienen wollen.“ Diese Handwerklichkeit war ihm ein Brauchtum, das in einer aufgeklärten Epoche niemand mehr braucht. Als grobschlächtige Rüpel sah er sie an und sich selbst erkannte er als auferstandenen Messias der Weltgewandtheit, als studentischen Gutmensch.
Vom Aufräumen träumte er und vom Niedergang der Schuld, die einem schon im Kindesalter in die Wiege gelegt wird. Seinen Eltern gab er die Schuld an dieser Schuld, wem sonst? Jeder übliche Mensch tut das. Denn Eltern geben zu Beginn eines frisch geborenen Lebens zwar alles, fordern dieses Alles aber gegen Ende hin wieder zurück. Unter dem Zuschlag von Zinsen und Zinseszinsen, ohne Vorbehalte.
Sie umsorgen uns, ermöglichen uns Freiheiten und Lieblichkeiten, solange wir als Kinder an ihrer Brust hängen. Sie bezahlen unser Essen, kleiden uns in Gewand und Manieren, lernen mit uns für die Schule und nicht fürs Leben und opfern sich für uns auf, jede Sekunde ihres Daseins, bis sie alt und somit selbst Opfer werden. Jedes Hindernis räumen sie uns aus dem Weg, bloß um uns dann Hindernis zu sein. Bloß um Rechenschaft einzufordern. Um sich von uns den vollgeschissenen Arsch wischen zu lassen, weil sie vor vielen Jahren einmal Gleiches für uns getan haben. Widerlich ist so etwas, aber üblich. Sie stellen die Forderung nach Dankbarkeit und Loyalität.
Fast wie ein Land, das Dienste und Steuern von den Männern und Frauen verlangt, die in diesem Land leben dürfen. Denn einfach so auf dieser Welt sein, kann man nicht. Dazu braucht es schon etliche Dokumente und Ausweise, Pflichten und Verpflichtungen, die man den Leuten abwringt. Sie bestehen darauf, dass man froh ist, über solche Möglichkeiten zu verfügen. Nicht hungern zu müssen und einer weichen blöden Mittelschicht anzugehören. Arbeiten zu können, obwohl es doch Mühsal ist. Dafür soll Julian also auch noch dankbar sein, denkt er sich. Eine gewaltige Schuld, die einem zur Last gelegt wird, die man dann schleppen muss. Ohne Fragen, ohne Bitten und Betteln. Beziehungsgewalt nennt man das im kleinen Kreise, dann folgt die Familiengewalt als nächste Instanz und gipfelt in der Staatsgewalt. Prost Amen. Nice view.
Ein guter, wenn auch dämlicher Freund von Julian vertritt die Ansicht, dass erst die Arbeit einen Menschen deutlich macht und redlich. Für diesen Idioten heißt das vermutlich so viel wie: Ein Wert der hochgeborenen Gesellschaft sein, bloß über das Erkennen der eigenen Physis. „Sich körperlich spüren in einer übergeisteten Welt“, nennt er das. Rohheit, Trieb und verdammter Kraft den Einzug in den Körper lassen, weil sie unserer Natur am nächsten sind, und sie durch Arbeit gerade schleifen und formen. Erinnerungen an einen quadratisch kantigen Bartbusch. A Portrait of the Artist as a Young Man. James Joyce.
Julian aber hatte ganz anderes Wissen in sich manifestiert. Er verurteilte Arbeit gerade wegen ihrer Rohheit und Natürlichkeit, und glaubte, dass die beiden Rohheit und Unnatürlichkeit fördern würden. Wenn er an die rauen Hände eines Arbeiters dachte, sah er sie zugleich auf das zitternde Gesicht einer Frau donnern. Julian verfügte über das für Schüler und sonstige Gelehrte typische, präpotente Besserwissen, dem entsprechend Arbeiter ihre Frauen wie Dreck behandeln, der sie eigentlich selber sind. Demnach sie alle rechte Politiker zu ihren Idolen wählen und auf alles Fremde oder Unbekannte oder Fremd-Gewordene schimpfen und einschlagen.
Er als feminisierter und vorurteilsfreier Mann hatte selbstredend nichts Unrechtes gegen Frauen oder sonstige Minderheiten. Gern wäre er selbst andersfarbig oder anderssprachig geboren, und der Weiblichkeit in Ehren hätte er sich mit leidenschaftlicher Genugtuung einmal im Monat den Penis blutig geritzt - mit dem billigsten Messer, das er ausgegraben hätte, rostig und golden -, wäre die furchtbare Angst vor dem dickflüssigen Rot nicht so groß gewesen. Aber nichtsdestotrotz war er stets edel gesinnt. Sein Pflichtbewusstsein und seinen Anstand hat er sich fleißig aus Magazinen und Büchern zusammengescharrt. Ohne irgendeiner Überlegung im Hinterkopf hat er sich so seine Meinungen gefaltet, aus Schriften von Extremisten und anderen starren Denkern. Wenn ein Linker denkt/dass ein Linker/bloß weil er links ist/besser ist als ein Rechter/dann ist er so selbstgerecht/dass er schon wieder rechts ist.//Wenn ein Rechter denkt/dass ein Rechter/bloß weil er rechts ist/besser ist als ein Linker/dann ist er so selbstgerecht/dass er schon rechtsradikal ist. Erich Fried.
Was für Julian aber das Schlimmste war, falls diese Phrase noch nicht verbraucht genug ist, war diese Art des Arbeitervolks, bloß über Belangloses zu reden. „Arbeiter sind Menschen, die nichts bewirken wollen, die ihr Wirken bloß auf ihr eigenes Dasein beschränken. In einem poetologischen Sinne steht das gewiss nicht.“ Julian war für sich selbst ein sogenannter Saubermensch, nie Unrechtes oder Gemeines oder Böses denkend und tuend. Bloß klug und ausnahmslos richtig.
Seine Hände waren samtig weich von den unzähligen Cremen und Lotionen, bis auf die Fingerkuppen seiner linken Hand, die ein wenig abgewetzt und aufgehornt vom spontanen Üben an der Bratsche waren. Als er jünger war, beim obligatorischen Beichten im Religionsunterricht der Volksschule, hatte er sich seiner ansehnlichen Hände wegen noch geschämt. Im Rahmen der schweißtreibend nervenaufreibenden Pubertät, als er sich gegen Vater und Mutter auflehnte und Dummheit und Naivität an deren zerfurchten Händen und Gesichtern ablas, erfüllten sich seine Gliedmaßen mit Stolz. […]

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