Foto: Luca Maximilian Kunze
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Das Ende der Schonzeit

Wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann – immer wieder hatte Mutter diesen Satz gesagt; wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann, sagte sie, bin ich zufrieden. Steckte sich eine Muratti an und lächelte mir zu, mehr mit den Augen als mit dem Mund.

Sie sagte den Satz auch dann noch, als ihre Schwester Susanne sie zwei Jahre nach Doktor Kerns Prognose, sie habe höchstens noch ein Jahr, zum letzten Mal ins Triemlispital einlieferte und sie – noch keine fünfzig Jahre alt – bereits zu schwach war, um sich selbst eine Zigarette anzuzünden. Mindestens einmal pro Stunde musste man sie ins Treppenhaus schieben; wenn ich an der Reihe war, zündete ich immer gleich zwei an, während sie aus dem Fenster im vierzehnten Stock schaute.

Draußen Zürich; in jenen ersten Tagen des neuen Jahrtausends im Nebel wie stillgelegt. Und ich stellte mir vor, wie Mutter fast dreißig Jahre zuvor am Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen war, mit ihren seltsam langen Beinen und den hellblonden Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten hatte. Eigentlich wollte sie nur ein paar Tage bleiben, dann aber verliebte sie sich sogleich und so sehr in diese Stadt, dass sie nachts ihre Häuser besetzte und tagsüber in einem kleinen Blumenladen an der Aemtlerstraße Sträuße an die anderen Verliebten verkaufte. In der Küche eines der besetzten Häuser an der Venedigstraße, in das sie sich gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft verirrt und wo sie sich schon am zweiten Abend die Zöpfe mit einem Brotmesser abgeschnitten hatte, lernte sie auch den Mann kennen, den sie später nur noch »deinen Vater« nannte. David Mourlin, geboren 1946, bekannt. So steht es in seiner Akte des Staatsschutzes, die er mir, nachdem ich ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal überhaupt getroffen habe, kommentarlos zugesandt hat. Als ich noch ein Junge war, erzählte mir Mutter bloß, dieser David habe ihr die Welt so wunderbar erklären können, dass sie anfangs kaum mehr geschlafen habe. Zur Arbeit aber, schob sie schnell und etwas verlegen nach, sei sie trotzdem nie zu spät gekommen.

Doch irgendwann hatte sie aufgehört, über ihn zu sprechen, so wie sie, nachdem sie mir gesagt hatte, ihre ganze Wirbelsäule sei voll mit Metastasen, aufhörte, über den Krebs zu sprechen. Auch über den Tod und die Zukunft sprach sie nicht mehr und erst recht nicht darüber, dass ich versprochen hatte, ihr zu helfen. »Wenn es gar nicht mehr anders geht, Joris, dann musst du …«, hier hatte sie kurz gestockt, »wenn ich nur noch Schmerzen hab und dalieg, dann musst du mir helfen, ja?!« Dabei schaute sie mich an, schaute und schaute, bis ich nichts anderes mehr tun konnte als nicken.

Das Schweigen aber hatte schon früher begonnen. Es war schleichend gekommen, wahrscheinlich sprachen wir immer weniger, bis es mir irgendwann auffiel, plötzlich, und nur dieser eine Satz übrig blieb: Wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann, bin ich zufrieden. Immer und immer wieder wiederholte sie ihn, als würde sie von Muratti dafür bezahlt. Manchmal hatte sie eine Art Trotz in der Stimme, manchmal lächelte sie verschmitzt dazu, als reiche das aus, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen; und nie änderte sie die Anzahl der Jahre.

Wenn ich ihr im Spital die brennende Zigarette zwischen die spröden Lippen steckte, nuckelte sie mehr daran, als dass sie inhalierte; ich erzählte ihr irgendetwas und folgte dabei ihrem Blick aus dem Fenster. Manchmal aber schaute ich einfach nur sie an, wie sie mit der linken Hand ihren Weihnachtsbaum festhielt, so nannte sie den Ständer, an dem die Infusionsbeutel hingen, und mit der rechten Hand die Zigarette. Ihre Finger waren dürr geworden, und ihre Knöchel standen heraus wie eine verwachsene Wirbelsäule. Die Nägel waren grellrot, was mir unpassend erschien, auch wenn Rebekka sie ihr lackiert hatte.

Obwohl die beiden sich da erst vier Monate kannten, umarmte Rebekka sie zu jeder Begrüßung, brachte ihr Blumen mit, die sie aus der Cafeteria für sie geklaut hatte, und fragte, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, wie es ihr gehe. Zwar antwortete Mutter auch ihr nur mit einem nichtssagenden Nicken, und ich war froh darüber, dass sie sich zu verstehen schienen; manchmal aber befremdete mich diese Nähe zwischen den beiden.

Doch nicht nur Mutters Hände fielen mir auf. Ich ertappte mich dabei, dass ich versuchte, mir andere Details zu merken, innerlich Fotos von Mutter machte im Wissen, dass später doch immer etwas fehlen würde. Manchmal führte ich gar tonlose Selbstgespräche: blaue Augen – gräulich blaue Augen, korrigierte ich mich –, eine sehr gerade Nase, altersblonde Haare und dieser Geruch, vermischt mit parfümiertem Tabak, so vertraut, dass ich nicht sagen konnte, ob es überhaupt einer war. Manches wiederholte ich, als ob ich Vokabeln büffelte; und während ich mir einprägte, wie sich Mutter im Rollstuhl an ihre Zigarette klammerte, hatte ich gleichzeitig Angst davor, dieses Bild nie mehr aus dem Kopf zu kriegen.


Auszug aus dem Roman: Das Ende der Schonzeit

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