Foto: Luca Maximilian Kunze
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drei. Wildnis.

In einem Augenblick zwischen Party und den Verstand zu verlieren kannst du genauso gut einfach lautlos weggehen, ohne dich zu verabschieden und dich umbringen. Es erscheint einem Menschen mit großteils gutlebigem Gemüt selten so gut passend, eben gerade, weil dieses doch sehr stark ins gut gelebte Leben schneidende Ereignis genug Platz hätte, genug Leere rundrum, um stattfinden zu können. 

Bist du wild genug? Wildnis eines Lebens muss unsichtbar, unbemerkt wachsen, gedeihen, sein, vorhanden sein, gut versteckt sein, weil ... es ist ein Dschungel. Es ist eine Tempelruine im tiefsten Dschungel der versteckten Wildnis deines normalen Lebens, und da lebt ein Wilder drin. Dein Wilder, der noch nie einen Menschen in Kleidung gesehen hat, der die Spuren der Tiere lesen kann, der herumgeht in der Nacht, weil seine Augen alles sehen, immer, die Augen einer Raubkatze.

Du könntest, wenn du das Gefühl hast, einfach bald den Verstand zu verlieren, weggehen, ohne dich zu verabschieden, ohne die Hände der Partygäste geschüttelt zu haben und farewell zu sagen, gehen, gehen, und es ist dann bestimmt Nacht draußen, und du hast Angst, bittere Angst, verloren zu gehen, zwischen Bordsteinen und Hausmauern. Und du gehst, und du wirst verlieren, und du gehst und du suchst dann vielleicht und du findest vielleicht deinen Wilden. Der Wilde streift durch die Straßen, der Wilde geht, läuft, schleicht, tapst, tänzelt durch die Nacht, mit geschliffenen Krallen und Zähnen und ohne Kleidung. Der Wilde könnte dich finden, noch ehe du bereit bist, auf ihn zu treffen, aber was hast du zu verlieren, und ein Zurück gibt es nicht mehr. Ein Zurück gibt es nur dort, wo es einen Schlussstrich gegeben hatte, aber den hast du nicht gemacht, dich nicht verabschiedet. Du bist frei, noch hat niemand dein Fehlen bemerkt, noch bist du gleichzeitig dort und hier, bei den Anderen und hier, allein auf der Straße, frei, wirklich frei, vorhanden und nicht vorhanden, verloren und nicht verloren, eine Idee eines Lebens, ein Rest von etwas einst Einem.

Und wo ist dein Wilder? Bald siehst du ihn um jede Ecke kommen, in den dunklen Hauseingängen stehen, lauern, horchen auf deinen unsicheren Schritt. Bald wirst du den Verstand verlieren, und dann, was bleibt noch? Dann, bereit, sich zerfetzen zu lassen, oder einfach einschlafen auf dem Gehsteig, oder irgendwo runterspringen, auf einen Aufschlag zu oder in einen unwirklichen Schlund hinein. Und Angst, blanke Angst, sich plötzlich wieder mitten unter den Partygästen zu finden, und alles ist geblieben, wie es war, und du hattest dich gar nicht fortbewegt, bist gar nicht weg gewesen, hattest dich gar nicht an zwei Orten und unter dem Magnetismus zweier Befindlichkeiten gleichzeitig aufhalten können, und da ist der Verstand aber endlich und endgültig weg. Und du musst ihn nicht suchen gehen, er ist weg, an keinem Ort, du kannst dich jetzt höchstens noch umbringen, aber wie nun, ohne allem. 

Im größten Unvermögen siehst, fühlst du dich gerettet und nicht zugleich, hast alle deine Kleider abgelegt.

 

> Ilitcheva

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